Schulschließungen und Digitalisierung der Schule
Auch digitales Lernen braucht die Schule als sozialen Raum.
Die SARS-CoV-2-Pandemie hat im österreichischen Schulsystem wie in anderen Ländern ein umfassendes Realexperiment ausgelöst. Wurde bisher die Digitalisierung an den Schulen zwar allgemein für notwendig gehalten, aber eher ungleichmäßig verfolgt, so haben sich im Frühjahr 2020 Schulen, Lehrerinnen und Lehrer, Schülerinnen und Schüler sowie Familien innerhalb einer knappen Woche auf digitalisiertes Lernen unter erschwerten Bedingungen mit räumlicher Distanz umstellen müssen. Sie haben digitale Medien und deren Möglichkeiten und Einschränkungen in gesamtgesellschaftlich herausfordernden Kontexten quasi in Echtzeit einsetzen und zum Laufen bringen müssen und so unfreiwillig nicht immer mit Begeisterung neue Lernerfahrungen gemacht. Die Digitalisierung erfolgte sozusagen „wild“, in Reaktion auf eine gesellschaftliche und schulische Disruption.
Das ZSI ist mit der Untersuchung „Lernen im Ausnahmezustand – Risiken und Chancen“, gefördert vom WWTF und durchgeführt im Frühjahr 2020 an elf Wiener Schulen mittels Online- und schriftlicher Befragung von SchülerInnen, LehrerInnen und Eltern, der Frage der Wirkungen der Schulschließungen und der „Lessons Learned“ nachgegangen. Aus unseren Befunden können wir die Frage des digitalen Lernens auf weitere Sicht folgende Schlussfolgerungen ziehen:
- Digitalisiertes Lernen und Lernen auf Distanz ist nicht dasselbe. Digitale Geräte, leistungsfähige Internetzugänge und die Fertigkeiten damit umzugehen, haben sich als notwendig für das Lernen auf Distanz, aber nicht als hinreichend erwiesen. Im Gegenteil, das Lernen auf Distanz dürfte die intelligente, sinnvolle und schülerzentrierte Entwicklung und Nutzung digitaler Lern- und Lehrformate eher erschwert haben. Vielen Lehrkräfte ist es dennoch, gelungen, Schülerinnen und Schüler unter Einsatz aller möglichen Formate und Kommunikationswege einzubinden und zu engagieren. Auch für den Erwerb digitaler Kompetenzen fehlt aber beim Distanzlernen der soziale Raum der Schule, in dem man mühelos anderen über die Schulter schauen, Aufmerksamkeit dosieren, Schwierigkeiten und Erfolge wahrnehmen und Anerkennung geben und bekommen kann. Digitales Lernen tut gut daran, diesen sozialen Raum zu nutzen, mitzudenken und ins Virtuelle auszuweiten – aber es ist illusorisch zu meinen, soziale Räume könnten durch digitale Tools substituiert werden.
- Das Lernen in der Corona-Krise hat deutlich gemacht, wie stark das Bildungssystem auf Kompetenzen und Ressourcen aller Beteiligten angewiesen ist, die es selber – noch – nicht oder zu wenig vermittelt: Lehrerkräfte, Eltern und Schülerinnen und Schüler mussten sich selbst zu Hause organisieren, zwischen Plattformen und Kommunikationskanälen navigieren und improvisieren, technischen Support und soziale Betreuung leisten. Das ist höher gebildeten und einkommensstärkeren Familien einfacher gefallen. Schülerinnen und Schüler aus ärmeren, weniger gebildeten Familien haben entsprechend mehr Schwierigkeiten beim Lernen gehabt und sich auch stärker verunsichert und überfordert gefühlt.
- Solange das Schulsystem soziale Ungleichheit nicht stärker kompensieren kann, trifft auch digitales Lernen auf ungleiche Lernvoraussetzungen und Lernchancen. Diese hängen nicht nur an der technischen Ausstattung. Auch Arbeits- und Lernstile mit Facetten wie Experimentierfreude, Eigenwilligkeit, Selbstbewusstsein, Ambition usw. sind nach sozialer Herkunft, Geschlecht, Migrationshintergrund, usw. geprägt. Zudem werden sie von Schülerinnen und Schülern mit unterschiedlichem Hintergrund auch in unterschiedlicher Weise erwartet und unterschiedlich bei ihnen bewertet. In die Gestaltung digitaler Lernformen und Umgebungen muss man also die objektiven wie die subjektiven Bedingungen sozialer Ungleichheit einbeziehen. Man muss sie immer wieder reflektieren, damit man sowohl „alle“ erreicht als auch „jede und jeden“ nach ihren Bedürfnissen unterstützt und fördert. Digitales Lernen kann diese Unterstützung und Begleitung nicht ersetzen, sondern erfordert sie.
- Dabei könnte es jedoch riskant sein, Schülerinnen und Schüler in ihrer Diversität lediglich durch die in COVID-19-Zeiten verallgemeinerte Perspektive der „Risikogruppen“ wahrzunehmen. Es geht nicht nur darum, Defizite in digitaler Kompetenz zu beheben, sondern allen zu ermöglichen, digitale Werkzeuge und Inhalte für ihre jeweiligen Zwecke und Ziele, Interessen und Bedürfnisse zu entdecken und einzusetzen.
Ursula Holtgrewe ist habilitierte Soziologin und Leiterin des Bereichs „Arbeit und Chancengleichheit“ am Zentrum für Soziale Innovation in Wien. Sie forscht über Arbeit und Organisation, Ungleichheit und soziale Innovation und auch über Digitalisierung in verschiedenen Arbeits- und Lebenswelten. Zum Thema Digitalisierung in der Bildung hat Holtgrewe auch kürzlich einen Workshop bei der Innovate-Konferenz gehalten. Die Folien der Präsentation sind hier zu finden.