So schnell ändert es sich…
Vor einigen Monaten schrieb ich im #DigitalMondayBlog über meine Arbeit als Forscherin im Bereich der Human-Computer Interaction (HCI).
Wenngleich sich daran nichts geändert hat, würde ich heute etwas ergänzen: Ich würde auf die Relevanz der Situation hinweisen, oder die des Kontextes, wie wir in der HCI dazu sagen. Praktisch heißt das, dass unsere Lebensumstände einen immensen Einfluss darauf haben, ob wir mit der Technologie was anfangen können, sie akzeptieren, sie gut finden, sie ablehnen oder wir sie einfach anpassen, so dass sie uns bestmöglich unterstützt.
Im vorherigen Beitrag habe ich über ein Forschungsprojekt geschrieben, das mir sehr am Herzen liegt: re:tangent – Remote Tangible Engagements (gefördert vom österreichischen Wissenschaftsfonds FWF). Es hat zum Ziel, die Beziehung zwischen räumlich getrennten Großeltern und ihren Enkelkindern anhand von „angreifbaren“ Technologien bzw. Materialien zu gestalten. Als wir das Forschungsprojekt starteten, war das ein Kontext, der zwar auf immer mehr, insgesamt aber auf wenige Großeltern und Enkelkinder zutraf. In den vergangenen Wochen, während der physischen Isolation zur Minimierung der COVID-19 Problematik, war plötzlich eine große Zahl von Menschen in dieser Situation. Audio-visuelle Kommunikation über Skype oder Zoom fanden Eingang in den Alltag, Chatgruppen wurden intensiv genutzt, um in Kontakt zu bleiben – Fragen der Akzeptanz oder Notwendigkeit solcher Technologien rückten zugunsten einer zumindest virtuellen Nähe in den Hintergrund. Und dennoch: Es fehlen genau jene Qualitäten in der Kommunikation, die beim Zusammensein an einem Ort so wichtig sind: sich zu umarmen, gemeinsam ein Bild zu malen, dasselbe Stofftier zu streicheln, gemeinsam Bauklötze zu stapeln, den gegnerischen Stein beim Mensch-ärgere-dich-nicht vom Spielbrett zu fegen oder das Geräusch eines fallenden Würfels zu hören.
In unserem Forschungsprojekt sind wir gerade mittendrin, eben solche Objekte, Materialien und Qualitäten für die Eignung in Technologie-mediierten Fern-Beziehungen zu erforschen. Wir (ein Forscherinnenteam aus Belgien und eines am Center for HCI an der Universität Salzburg), haben zu Beginn des Forschungsprojektes Studien mit entfernt lebenden Großeltern und Enkelkindern durchgeführt, die uns Aufschluss darüber gaben, was in ihren Beziehungen so besonders wichtig ist, welche physischen Artefakte eine Rolle spielen, wie sie ihre gemeinsame Zeit gestalten, aber auch mit welchen Problemen sie zu kämpfen haben. Diese – oft sehr persönlichen und individuellen – Einblicke sind die Basis für die Entwicklung von Konzepten und Prototypen, die entweder die empfundene Distanz verringern sollen oder sie besonders intensiv erleben lassen, um sich mit der mitunter auch schmerzhaften Situation bewusst auseinanderzusetzen. Wir explorieren sich bewegende Kleidungsstücke, die sich bewegen um eine Umarmung über die Distanz spürbar zu machen, Sanduhren, die ein gemeinsames Spiel haptisch anreichern, oder Tische, die Geräusche aus der Entfernung übertragen.
Aktuell kommt nun eine weitere Komponente hinzu: wir beobachten, wie kreativ Großeltern und ihre Enkelkinder währender der Krise geworden sind, um miteinander in Kontakt zu sein: Individuelle Spiele werden erfunden, physische Objekte in die Konversation eingebaut oder per Post hin- und hergeschickt. Großeltern und Enkelkinder sind zu ErfinderInnen und EntwicklerInnen geworden. Unserem Forschungsinteresse folgend werden wir nun versuchen, aus dem Erfindungsreichtum zu lernen und neue Konzepte zu entwickeln, die – so es die Situation erfordert – ein besonderes Erlebnis für Großeltern und Enkelkinder und eine besondere Beziehung über Distanz ermöglichen.
Dieses Beispiel zeigt, wie nahe Forschung und Alltag oft beieinander liegen, wie sie sich ergänzen, voneinander lernen und gegenseitig inspirieren können. Es zeigt, wie schnell sich die Lebensrealität des Menschen ändern kann, wie rasch Technologie zum Hoffnungsträger wird und gleichzeitig nicht immer leisten kann, was wir uns wünschen. Es zeigt auch, dass NutzerInnen oft erfindungsreicher sind, als es die Technologieentwicklung selbst ist. Forschung und Entwicklung, die gemeinsam mit den Menschen im Kontext passiert, scheint uns deshalb noch vielversprechender und notwendiger als je zuvor.
Verena Fuchsberger ist Postdoc am Center for Human-Computer Interaction an der Universität Salzburg. Nach ihrem Studium der Erziehungswissenschaft und der Psychologie an den Universitäten Salzburg und Innsbruck hat sie an der Angewandten Informatik in Salzburg promoviert. 2018 wurde sie von der Stadt Wien mit dem ersten Hedy Lamarr Preis für innovative Frauen in der IT ausgezeichnet.