Gestärkt durch Krisen kommen
Welcher Mindset macht stabil und beweglich in verunsichernden Zeiten?
Wohl kaum jemand hätte nur eine Woche vor dem dem Bekanntwerden des Covid-19 Virus die Vorstellung ernst genommen, dass innerhalb einiger Tage Gesellschaft und Wirtschaft weltweit fundamental erschüttert werden könnten.
Zuerst die schlechte Nachricht: Rechnen Sie besser nicht damit, dass es wieder ruhiger und planbarer wird. Covid-19 ist „nur“ ein aktuelles und dramatisches Beispiel für den „Schwarzer Schwan“-Effekt: Seltene, nahezu unvorhersehbare Ereignisse können äußerst tiefgreifende Auswirkungen nach sich ziehen.
Wir leben in einer Welt, die wir auf unterschiedlichen Ebenen derart „hochgesteuert“ haben, dass es immer wieder zu solchen Ereignissen kommen muss: Umweltzerstörung, Überbevölkerung, globale Vernetzung der Handels- und Reisewege, Digitalisierung, politische Risiken, demographische Entwicklung, etc. erhöhen die Wahrscheinlichkeit und Unvorhersehbarkeit von Schockereignissen.
Die Digitalisierung nimmt dabei eine zentrale Rolle ein, wie es auch bei der Covid-19- Krise beobachtbar ist: Daten und Informationen sind global vernetzt, können schnell ausgewertet werden, ermöglichen Verhaltenssteuerung und Risikominderung, Online-Kommunikation erlebt einen weiteren enormen Schub, etc.
Digitalisierung leistet auch einen wesentlichen Beitrag zur Erhöhung der Dynamik: Viele Innovationen und neuen Businessmodelle sind stark digitalisiert und können global ausgerollt und skaliert werden. Damit können einerseits digitale Innovatoren enorme Möglichkeiten nützen, die meisten Unternehmen stehen jedoch auch potentiell mit der ganzen Welt in Konkurrenz.
Die gute Nachricht: Es ist möglich sich auf das Unvorhersehbare vorzubereiten. Ein/e Gewerbetreibende/r hat es im Interview nach Bekanntwerden der auch für ihn existenzgefährdenden Schließung fast aller Geschäfte aufgrund von Covid-19 so formuliert: „Es hat immer Menschen mit innerer Stärke und Klarheit gegeben und die haben alle Schwierigkeiten gemeistert.“
Im Auge, dem Zentrum des Orkans, ist es ruhig, auch wenn der Sturm sich rasend schnell fortbewegt.
Wie kann man diese Klarheit und Stärke entwickeln?
Gefühle von Bedrohung und Kontrollverlust lösen Angst aus, worauf die Amygdala in unserem Gehirn Stresshormone in den ganzen Körper schickt. Wird jetzt automatisch auf diesen Stressimpuls automatisch in der selben Sekunde reagiert, affektiv gehandelt? Oder gelingt es, zuerst die auslösende Emotion selbst wahrzunehmen, ihr „ins Auge“ zu blicken? In diesem letzteren Fall kann das Stirnhirn, das idealerweise als „Dirigent“ die verschiedenen “Stimmen“ in unserem Gehirn orchestriert, eine entscheidende Rolle spielen. Ist dieser „Dirigent“ gut genug auf seine „Partitur“ eingeübt, damit panische Angst nicht die Aufführung stört?
Wenn man für sich Antworten auf die folgenden Fragen sucht und gefunden hat, können diese Antworten eine vertraute Partitur zur Orientierung in der Krise, ein mentales „Rückgrat“ für den kontrollierten Umgang mit Angst bilden:
- Historie: Welche wichtigen Erfahrungen haben mein Leben geprägt?
- Standortbestimmung: Was sind meine Stärken und Schwächen? Wofür stehe ich?
- Berufung: Was ist mein Beitrag zu dieser Welt, meine Bestimmung? Was sind die für mich bedeutsamen Werte?
- Ambition: Wo liegt meine Zukunft, was ist mein Traum, was will ich erreichen?
- Mein Weg: Wie überwinde ich Barrieren und gestalte ganz konkret das nächste Kapitel meines Lebens? Mit welchen Verhalten sabotiere ich mich immer wieder selbst?
Je klarer einem die Antworten auf diese Fragen sind, umso stabiler wird man sich fühlen, auch wenn sich rundherum und in einem selbst viel in Umbruch befindet.
Einen anderen, damit kombinierbaren Ansatz bietet das japanische Konzept Ikigai. Das Wort bedeutet so viel wie „das, wofür es sich lohnt zu leben“. Dabei reflektiert und erfasst eine Person für sich die persönlichen Schwerpunkte, Inhalte und Aktivitäten, mit denen man Geld verdient, die man kompetent beherrscht, die man mit Leidenschaft macht und die die Welt aus persönlicher Sicht braucht. Profession kann man darauf aufbauend als das bezeichnen, was man kompetent und wirtschaftlich einträglich umsetzt, in der Passion ist man leidenschaftlich und kompetent, Geld mit etwas zu verdienen das die Welt braucht ist die eigene Berufung, mit Leidenschaft das zu tun, was man als notwendig erkennt, bildet die persönliche Mission. Bei der Leidenschaft alleine fehlt das Geld, bei der Kompetenz der Sinn. Nur zu spüren, was die Welt braucht, macht unsicher, Geld alleine verströmt Leere.
Für die persönliche, stabile Lebensgestaltung kann man sich die Frage stellen, ob und wie man alle vier Aspekte bestmöglich umsetzen will.
Das Rückgrat von stabil-beweglichen Unternehmen
Um mit Krisensituationen einerseits rasch und flexibel umgehen und gleichzeitig auch auf Kurs und den eigenen Grundsätzen treu bleiben zu können, brauchen auch Unternehmen ein „Rückgrat“: Ein tragfähiges, stimmiges Gerüst mit einem roten Faden aus Würdigung von Gründungsimpuls und ‑persönlichkeiten, Entwicklungsgeschichte(n), Markenidentität, dem Zweck (bzw. Purpose, Why?), der Positionierung und wichtigen Werten in der Zusammenarbeit, der Zielerreichungsstrategie und dem Zukunftsbild, der Vision als Leitstern. Diese Säule gibt Halt, wenn sie sowohl für Management als auch für Mitarbeiter glaubwürdig und spürbar ist.
Um sich auf dieser Basis auf unvorhersehbare Situationen bestmöglich vorbereiten und mit ihnen umgehen zu können, ist es weiters hilfreich, einen sicheren „Raum“ zu schaffen (zeitlich, sozial, physisch), indem Selbstreflexion und Entwicklung sowohl individuell als auch als Organisation möglich sind.
Unser zweiter Job wird zentral
Die Welt ist schneller in Bewegung als je zuvor und wird in unterschiedliche Richtungen gezerrt durch (De-)Globalisierung und Regionalisierung bei gleichzeitiger globaler, digitaler Vernetzung und einem zunehmenden Bewusstsein der Menschen für die Schicksalgemeinschaft der gesamten „Besatzung“ des Spaceship Earth.
Für Menschen und Organisationen wird dadurch neben dem ersten Job, der Arbeit, die jedenfalls zu tun ist, der zweite Job zentral: Uns über unsere Motivation, Haltung und Ausrichtung klarer zu werden. Auf dieser Basis können wir uns persönlich und in Teams, als Organisationen weiterentwickeln. Das Rückgrat bietet dabei Halt und Beweglichkeit.
Richard Pircher ist Unternehmensberater bei MetaShift und Professor an der Fachhochschule des BFI Wien. Er unterstützt Menschen und Organisationen bei Entwicklungsprozessen und hält Workshops, Seminare und Vorträge zu Themen wie Purpose- und Strategieentwicklung, Leadership, agilstabile Organisation, Entscheidungstechnik, Wissensmanagement, etc.
Kontakt: Prof. (FH) Dr. Richard Pircher
richard.pircher@metashift.eu
https://www.linkedin.com/in/richardpircher/
www.metashift.eu
www.agilstabil.com
Quellen:
Richard Pircher: Agilstabile Organisationen: Der Weg zum dynamischen Unternehmen und verteilten Leadership, Vahlen 2018
Michael Paula: Der persönliche Backbone – Wie führe ich mich selbst? https://www.walkyourtalk.at/der-persoenliche-backbone/allgemein/
Nowhere: www.now-here.com
Nassim Nicholas Taleb: Der Schwarze Schwan – Die Macht höchst unwahrscheinlicher Ereignisse, Pantheon 2018